(Veröffentlicht in „Schreib Was“, Literaturmagazin aus Österreich, im Juli 2022)

Ein zu kurzer Sommer in Berlin

Am zweiten oder dritten Tag meines Sommerjobs bei der Post sah ich sie. Eine Frau, die ich nicht einmal in meinen kühnsten Träumen zu erblicken wagte. 
Sie hatte einen wachen Gesichtsausdruck, blaue, einladende Augen, trug ihr blondes Haar bewusst schlecht gekämmt und hatte eine unglaubliche Figur. Eigentlich machte ich mir nie etwas aus Augenfarben, Frisuren oder Körperformen. Frauen hatten etwas zu erzählen, gefielen mir, machten mich neugierig oder eben nicht. Mehr zählte für mich nicht. Auβerdem steckte ich in einer Beziehung, die mich ausfüllte. Ich war verliebt, wirklich verliebt.
Diese Frau jedoch hatte die Wirkung eines Berges, der auf mich niederstürzte. Es gab kein Entkommen.
Ich glaube, ich war ein zufriedener Student. Damals studierte ich, ich war wohl vierundzwanzig oder fünfundzwanzig Jahre alt, Ethnologie an der FU in Berlin. Berlin war eine tolle, lebendige Stadt. Farben, Klänge, Gerüche, Ideen – alles schien intensiver als in der norddeutschen Provinz, wo ich gerne aufgewachsen bin. Wir lernten ständig neue Leute kennen, genossen die kulturellen Angebote und debattierten Tage und Nächte darüber, wie wir die Welt verbessern könnten. Sie wollte aber nicht auf uns hören. Irgendwelche dunklen Mächte waren wohl einfach stärker als unsere Sehnsüchte. Zum Glück fanden wir auch Zeit für belanglose Momente und unvergessliche Partys, wahrscheinlich wären wir sonst zu versauerten Politdinosauriern mutiert..
Dass ich, um dieses Leben bezahlen zu können, jobben musste, störte mich eigentlich nicht. Ich brauchte nicht viel Geld, Berlin war billig, meine Einzimmerwohnung mehr als erschwinglich und übermäβiger Konsum interessierte mich auch nicht.
Im Sommer fand ich dann diesen Job bei der Post. Er war einfach. Mit dutzenden von Leuten mussten wir den Postleitzahlen entsprechend Pakete über das Flieβband hinweg in die betreffenden Kisten werfen. Landete eins in der falschen Stadt, war das auch nicht so wichtig. Der Job war gut bezahlt und niemand nahm irgendwelche Sorgen mit nach Hause.
Sie machte, wie alle anderen, ihren Job. Aber sie war nicht wie die anderen. Ich konnte meinen Blicke nicht kontrollieren. Ich sah sie an, in sie hinein, durch sie hindurch.
Nur diese Pakete, die diese unmenschliche Maschine unaufhaltsam ausspuckte, störten. Immer wieder mussten wir zugreifen und werfen. Wie gerne hätte ich sie länger unaufdringlich beobachten können.
Dann sah ich sie ein paar Tage nicht. War sie krank oder hatte sie mit dem Job aufgehört? Das wäre in Berlin tödlich gewesen. Lustlos warf ich die Pakete zielsicher in ihre Kisten. Sie fehlte mir, ich vermisste sie so sehr, dass es wehtat.
Am nächsten Tag stand sie mir am Flieβband direkt gegenüber. Ich sah sie an, so oft ich wollte. Mein Herz sprang in meiner Brust, es war der schönste Arbeitstag in meinem Leben. Ich verteufelte die groβe Wanduhr, die eiskalt anzeigte, dass sich der Feierabend näherte und ich sie nicht mehr betrachten könnte Die Sirene ertönte und wir verlieβen die Halle.
“Bis morgen”, sagte ich mutig zu ihr.
Es klang wohl lächerlich. Sie drehte gelangweilt ihren Kopf und ging wortlos davon.
Auch die nächste Schicht am nächsten Tag teilten wir. Mir gefiel der Personalchef, den ich nie kennen gelernt hatte, der es aber gut mit mir meinte.
Sie stand mir zwar diesmal nicht direkt gegenüber, aber ich konnte sie ab und zu bewundern. Ich hatte sogar den Eindruck, dass sie meine verstohlenen Blicke beantwortete. Vielleicht sah ich sogar ein Lächeln auf ihren Lippen. Ich musste einfach etwas tun. Aber was nur? In der kurzen Kaffepause war sie umzingelt von anderen Leuten. Ich griff zu einem Kugelschreiber, kritzelte ein paar Wörter auf ein Stück Papier und steckte es ein.
Die Pakete wollten gegriffen werden, die Uhr schritt voran. Dann legte ich das zerknüllte Papier aufs Flieβband, das auf sie zurollte. Mein Herz raste. Warum sollte sie danach greifen?
Plötzlich sah sie mich an. Verzweifelt zeichnete ich etwas in die kühle Luft der kalten Halle. Sie verstand nicht, das Papier glitt an ihr vorüber. Doch dann verrenkte sie sich und lieβ meine einfachen, ehrlich gemeinten Worte in ihre Gesäβtasche verschwinden. Ich traute mich nicht mehr sie anzusehen. Der Feierabend wurde eingeläutet und mich ergriff eine unerklärliche Panik. Ich wollte weg, ich wollte nach Hause.
Jemand griff nach meinem Arm.
“Ich dachte, du wolltest ein Bier mit mir trinken.” “Ja, ähh… ”, ich stammelte hilflos vor mich hin.
“Wohin könnten wir denn gehen?”
“Vielleicht ins Café Anfall?”, schlug ich vor. Ich mochte dieses Café, wo interessante Leute schnelle und gute Musik hörten.
In der U-Bahn, die wir nehmen mussten, es waren zum Glück nur zwei Stationen, sprachen wir kaum. Ich starrte sie an, ich konnte es immer noch nicht glauben, sie war mir ganz nah und sie lächelte, wie ich nie eine Frau habe lächeln sehen..
Im Café fanden wir glücklicherweise einen freien Tisch und tranken das erste Bier.
Sie lachte. Ich guckte doof.
“Als ich dich wild gestikulierend am Flieβband sah, habe ich nichts verstanden. Dann bemerkte ich dieses Papier zwischen all den Paketen. Das passte da irgendwie nicht hin und ich griff zu. Die Idee, ein Bier zu trinken, fand ich gut.”
Langsam entspannte ich mich. Ich weiβ nicht mehr, worüber wir sprachen, aber schlieβlich verging die Zeit so schnell, dass wir zur letzten U-Bahn rennen mussten. Sie wohnte in Kreuzberg und ich in Neukölln. Am Hermannplatz sollten sich unsere Wege trennen. Ich traute mich nicht, irgendwas zu sagen.
“Hermannplatz” dröhnte es aus den Lautsprechern in unseren Wagon hinein, als sich die Türen öffneten.
“Kann ich mit zu dir kommen?”, fragte sie in der letzten Sekunde ein bisschen unsicher.
“Ja, gerne.”
Ich war mir sicher. Die Türen schlossen sich und sie stand weiter dicht neben mir. Worüber ich mir nicht sicher war, war der Zustand, in dem ich meine Wohnung hinterlassen hatte. Ich wusste aber, dass ich weder etwas zu essen noch etwas zu trinken im Kühlschrank hatte. Wahrscheinlich aβen wie bei meinem Lieblingsdöner ein Fleischgericht, tranken noch ein Bier und bevor ich bezahlte, kaufte ich noch eine Flasche Rotwein. Ich fand Rotwein geeigneter, als in romantischen Momenten Bier zu trinken.
Als ich meine Wohnungstür aufschloss, war ich einigermaβen beruhigt. Die letzten Tage muss ich aufgeräumt haben. Leider konnte ich ihr nicht anbieten, sich duschen zu können. Es gab bei mir nicht die Möglichkeit dazu. Und als sie auf die Toilette wollte, musste ich ihr sagen, dass sie sich auf halber Treppe befand. Da merkte ich, dass ich ein ziemlich mittelloser Student war.
Wir setzen uns auf mein Bett, da es kein Sofa in meinem Zimmer gab. Wir tranken Wein und plauderten. Trotz des anstrengenden Arbeitstages, des heiβen Tages, der sich in die Nacht verwandelt hatte, roch sie gut.
Wir zogen unsere Kapuzenpullis aus und ich bemerkte ihre vollen Brüste unter ihrem gestreiften Shirt.
Sie benutzte meine Zahnbürste, zog sich ruhig ihr Shirt über den Kopf und kuschelte sich unter die Bettdecke. Wie schön sie mich anlächelte! Mein Kopf drohte zu platzen. Auch ich entkleidete mich, legte mich neben sie und wir gaben uns den ersten Kuss. Es war ein schöner Kuss. Kurze Zeit später lagen wir nackt nebeneinander. Sie war wunderschön. Dann klingelte das Telefon. Ich war so dämlich, dass ich abhob.
“Na, ich bin schon fast bei dir. Ich komme gleich hoch, ok?”
Es war meine Freundin. Sie rief mich aus dem Syndikat an, eine andere gute Kneipe, fast mein zweites Zuhause, wo wir die Welt nicht nur zu verbesserten versuchten, sondern eine, viele, wirklich gerechte, ganz neue Welten schufen.
Ich stammelte schon wieder. Nie habe ich an einem einzigen Tag so viel gestammelt wie damals.
“Ähh…, das ist jetzt schlecht.”
“Bist du nicht allein?”
“Nein.”
Sie legte auf. Ich rauchte eine Zigarette.
“Ich habe auch einen Freund. Aber jetzt bin ich hier bei dir und ich fühle mich gut.”
Ich fühlte mich auch gut. Wir genossen unser Zusammensein, unsere Körper, unsere Stimmen. Ich glaube, wir waren beide glücklich in dieser Nacht.
Als ich aufwachte, lag sie friedlich schlafend neben mir. Die Bettdecke lag auf dem Boden und ich betrachtete sie, ohne glauben zu können, dass sie wirklich dort lag.
Ich streichelte sie mit sanften Küssen und flüsterte, dass ich gleich wieder da sei. Sie lächelte mit geschlossenen Augen. Schöne Bilder mussten unter ihren Lidern vorbeifliegen. Ich wünschte, dass sie mich in diesem Traum sah, den sie noch nicht ausgeträumt hatte.
Wieder bei meinem Liebligsdöner trank ich glücklich einen doppelten Espresso. Beim Bäcker um die Ecke kaufte ich verschieden belegte Brötchen. Die Sonne schien, der Himmel war friedlich blau. Es gab keine schlechten Sommer in Berlin. Das schien in dieser Stadt verboten zu sein.
Ich sprang die Stufen hinauf. Ich hoffte, sie wieder nackt, friedlich schlafend, bewundern zu können, aber sie lag nicht mehr in meinem Bett. Ich machte zwei Schritte nach rechts. Da war die Küche, sonst gab es nichts in meinen sechsunddreiβig Quadratmetern. Kaffeegeruch lag in der Luft.
Dann sah ich sie. Sie hockte auf dem einzigen, auβerdem unbequemen Stuhl, den ich besaβ. Sie hatte beide Beine aufgestützt, sie trug ihr gestreiftes Shirt und meine Boxershorts, die sie mir vor wenigen Stunden ausgezogen hatte. Seitdem habe ich nie wieder eine Frau in einer meiner Boxershorts gesehen.
Sie hatte den Küchentisch für das erste gemeinsame Frühstück vorbereitet. Ich bewunderte sie, es war kein Foto, keine Einbildung, nein, sie saβ dort. Aus ihrer Tasse dampfte frischer Kaffee, ihre Zigarrette qualmte und sie lächelte. Ich war mir sicher, sie lächelte nur für mich. Ich lächelte auch, nur für sie. Sie stand auf, wir umarmten und küssten uns. Dann frühstückten wir und ich stammelte nicht. Ohne den Tisch aufzuräumen, legten wir uns wieder ins Bett. Wir erfreuten uns an unseren Körpern und unseren aufrichtigen Blicken. Die Sonne schien durch die doppelverglasten, geöffneten Fenster über die Bäume des Parks direkt ins Zimmer.
“Ich muss jetzt langsam los”, sagte sie.
Sie wollte es nicht sagen, ich wollte es nicht hören, beide verstanden wir es. Während sie sich wenig überzeugt anzog, stand ich hilflos daneben. Wir wussten nicht, was wir sagen könnten. Ich gab ihr meine Telefonnummer. Unsicher strich ich ihr durchs Haar. Dann ging sie die Treppen hinunter. Ich weigerte mich, die Tür zu schlieβen. Als ich ihr durchs geöffnete Fenster nachsah, drehte sie sich um. Wir beide wollten uns noch einmal sehen. Dann war ich allein.

Dirk Morenweiser