Der Baum, der weinen wollte
„Warum bist du denn so traurig?“, fragte ein kleiner, zerbrechlicher Vogel den Baum, auf dem er so gern ausruhte.
Der Baum senkte seine Äste, ein paar Blätter fielen herab.
„Ich fühle mich so allein. Seit mehren Sonnenaufgängen vermisse ich eine Freundin, die in meinem Geäst ein Zuhause gefunden hat. Wo ist sie nur? Ich mache mir Sorgen um sie“
„Von wem sprichst du denn nur?“
„Von einer jungen, liebevollen Frau. Es gibt auf dieser Insel viele Freunde von mir. Alle ragen in den Himmel. Im Spiel wuchsen wir um die Wette, jeder von uns wollte mit den kräftigsten Ästen, den tiefsten Wurzeln, den saftigsten Blättern prahlen können. Nie gewann ich dieses Spiel. Aber dieses Menschenkind, ich weiβ nicht warum, besuchte ausgerechnet mich, jeden Tag. Geschwind kletterte sie an mir hinauf und in den höchsten meiner Ästen nahm sie Platz und schaute auf das Meer hinaus. Zuerst fragte ich mich, was sie denn bei mir wollte. Träumte sie? Suchte sie etwas? Fragte sie etwas? Zog sie sich zurück? Aber auf diese Fragen wollte ich dann irgendwann keine Antworten mehr finden. Ich war mir sicher, dass sie sich in meinem Geäst wohlfühlte und ich genoss es, dass sie sich bei mir geborgen fühlte. Ich begann sogar, sie zu erwarten. Ich freute mich, wenn sie sich näherte, wenn sie mich berührte. Sie liebkoste mich. Kein Mensch hat das je mit mir getan. Wie schön es sich anfühlte! Ich wünschte, mit ihr sprechen zu können, oder ihr mindestens zuhören zu können. Aber wir Bäumen können nur zu euch Vögeln sprechen und von euch gehört werden. Und dann fliegt ihr davon, während wir uns an der Erde festhalten. Ich hätte so gerne ihre Gedanken, ihre Wünsche gelesen. Ich bin mir sicher, dass sie gut und gerecht waren. Und wenn der Wind stärker wurde, spannte ich mich an. Sie sollte sich bei mir ganz sicher fühlen und immer wieder kam sie zurück. Oft summte sie Lieder, Melodien, die ich hören durfte und es waren wahrhaft schöne Klänge. Wovon sie nur sprachen? Für mich klangen sie aufrichtig, zärtlich und sehnsuchtsvoll. Es war eine junge Frau mit einem starken Willen und doch zerbrechlich. Sie war ein so besonderer Mensch. Wo ist sie nur?“
Inzwischen hatten sich immer mehr Vögel niedergesetzt. Auch sie hatten den Worten des alten Baumes mit seiner zerfurchten Rinde und seiner mächtigen Krone gelauscht. Sie zwitscherten sich aufgeregt etwas zu.
„Mein lieber Freund“, piepste der kleine Vogel, „wir werden ausschwärmen und sie suchen. Schon bald werden wir dir von ihr erzählen können. Sei dir ganz sicher!“
Dann flogen sie davon. Der Baum fühlte sich wie ein Baum, der keinen anderen in seiner Nähe hatte. Hätte er weinen können, so hätte er geweint.
Dirk Morenweiser
Hallo,
in Anbetracht der vielen minderwertigen Veröffentlichungen im Netz ist Dirks Kurzgeschichte „Der Baum, der weinen wollte“ mal eine willkommene Ausnahme. Kurz, aber umso mehr gelungen kann man diese nur jedem empfehlen, der sich für Literatur begeistert.
Matthias
Vielen Dank Matthias, es freut mich, dass dir die Geschichte gefallen hat!
Liebe Grüsse
Dirk